Fallskizze: „Wie haben Sie es geschafft …?“
Längst überwunden⁉️ Die Coachee möchte ihre berufliche Perspektive klären. Sie ist einverstanden, dass wir uns ihre Arbeitsbiografie von A-Z anschauen, um ein gemeinsames Bild ihrer Kompetenzen, Stärken und Ressourcen zu bekommen, auf die sie bauen kann.
Auf meine Frage ‚Was waren die wichtigsten Werte und zentralen Botschaften, die Sie aus Ihrem Elternhaus zum Thema Arbeit und Leistung mitgenommen haben?‘ antwortet sie aufgeregt und fast unwirsch: ‚Müssen wir wirklich da hinschauen? Das habe ich alles längst überwunden‘.
Es ist deutlich spürbar, dass sie sich nicht mit den unangenehmen Erinnerungen im Begleitgepäck dieser in die Vergangenheit reichenden Frage befassen möchte.
Auch wenn ich im Coaching nicht gezielt eine tiefere emotionale Involvierung ansteuere, entstehen durch Fragen nach der Vergangenheit manchmal ungewollt heftige Gefühle, wie in diesem Beispiel. Eigentlich sind wir auf der Suche nach zentralen Quellen und Mustern für ihre Motivation, aber manchmal stoßen wir dabei eben auch auf unangenehme Lebenserfahrungen.
Wie kann ich der Coachee helfen, eine gute Verbindung zu einer schwierigen Vergangenheit herzustellen, ohne dabei von alten Gefühlen überflutet zu werden? Ich greife ihren Bezugspunkt auf und versuche einen Perspektivwechsel mit der Ressourcenbrille:
„Darin stecken ja vermutlich schon jede Menge ihrer Stärken und Ressourcen! Mich würde natürlich interessieren, was Sie dafür lernen mussten und wie Sie es geschafft haben, diese frühen – offensichtlich belastenden – Einflüsse zu überwinden?“
Auf diese Einladung kann die Coachee aus einer größeren Distanzierung und mit Stolz von sich erzählen und ihre destruktiven Erfahrungen nochmal anders einordnen. Im Nebeneffekt werden dabei die begrenzenden Botschaften und Bewertungen ihrer Familie deutlich – und ihre Lebensleistung steht direkt daneben.
Solche ‚Wie haben Sie es geschafft‘-Fragen sind typisch für die Ressourcenbrille in der lösungsfokussierten Beratung. Sie betonen die Selbstverantwortung und fördern das Selbstwirksamkeitserleben: „Wie haben Sie es geschafft, sich davon nicht unterkriegen zu lassen … Ihre Lern- und Lebensfreude zu bewahren … nicht zu resignieren … ein Studium durchzuziehen …“ etc.
Bei manchen Lebenserfahrungen brauchen wir eine solide Verdrängung, aber wenn eine Reaktion so schroff ausfällt, wie in diesem Beispiel, können wir annehmen, dass die Verdrängung nicht wirklich gelungen ist – die unerwünschten alten Gefühle wabern hinüber ins Hier und Jetzt.
Dann hilft es, zu erkennen, wieweit diese Gefühle noch hinderlich sind im Alltag. Wenn der Coachee diese Reflexion ihrer schmerzlichen Erfahrungen mit emotionaler Beteiligung gelingt, ohne von ihren Gefühlen bedroht oder überschwemmt zu werden, kann sie ihre Erfahrungen besser integrieren.
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